Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung

Gemäß Artikel 101 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind Vereinbarungen, die den Wettbewerb auf dem EU-Binnenmarkt beschränken, zwischen Unternehmen grundsätzlich verboten (Kartellverbot). Bei einem Verstoß sind die getroffenen Vereinbarungen nichtig und es drohen Bußgelder.
Durch Gruppenfreistellungsverordnungen können bestimmte Gruppen von Vereinbarungen bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen von diesem Verbot ausgenommen werden. „Gruppen“ in diesem Sinne sind Vereinbarungen, denen gemeinsame oder vergleichbare Tatbestände zugrunde liegen und die bei einer Gesamtschau aller relevanten Interessenlagen einer typisierenden Beurteilung zugänglich sind.
Grundsätzlich ist jedoch jede wettbewerbsbeschränkende Abrede verboten, wenn sie nicht ausnahmsweise von der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) freigestellt ist.
Die Vertikal-GVO nimmt Vereinbarungen zwischen zwei oder mehr Unternehmen, die auf verschiedenen Ebenen der Produktions-oder Vertriebskette tätig sind, von dem vorgenannten Verbot aus, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Es geht um Vereinbarungen, die Bedingungen betreffen, zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen können.
Nach der Vertikal-GVO sind „vertikale Vereinbarungen“ vom Anwendungsbereich des Kartellverbots ausgenommen („gruppenfreigestellt“), sofern
  • weder der Marktanteil des Anbieters auf seinem Verkaufsmarkt noch der Marktanteil des Abnehmers auf seinem Nachfragemarkt die Schwelle von 30 % überschreitet,
  • keine „Kernbeschränkungen“ nach Art. 4 Vertikal-GVO (insbesondere: Beschränkungen in Bezug auf Preise, Gebiete oder Kunden im Weiterverkauf der Waren oder Dienstleistungen) vereinbart werden und
  • keine „grauen“ Klauseln nach Art. 5 Vertikal-GVO enthalten sind.

Die Vorschriften der Vertikal-GVO sehen somit einen geschützten Bereich vor, in dem die betreffenden Vereinbarungen von dem Verbot ausgenommen sind. Die Vertikal-GVO stellt für die Vertriebsbranche somit einen verlässlichen rechtlichen Rahmen bereit, in dem Hersteller und Händler ihre Geschäftsbeziehung regeln können.
Stellt die Kommission in einem bestimmten Fall fest, dass eine vertikale Vereinbarung dennoch Wirkungen hat, die mit dem Kartellverbot nicht vereinbar sind, kann sie die Freistellung nach der Vertikal-GVO auch wieder entziehen (Art. 6 Abs. 1 Vertikal-GVO).

Marktanteilsgrenze
Voraussetzung für die generelle Freistellung von Vereinbarungen nach der Vertikal-GVO ist zunächst gem. Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO, dass der Marktanteil sowohl des Anbieters als auch des Abnehmers jeweils nicht mehr als 30 % auf dem jeweiligen Markt beträgt. Zur Berechnung des Marktanteils werden alle Konzernunternehmen von Anbieter und Abnehmer hinzuberechnet. Unterhalb dieser Schwelle wird generell vermutet, dass vertikale Vereinbarungen, die nicht bestimmte Arten schwerwiegender Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, im Allgemeinen zu einer Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs führen. Oberhalb dieser Schwelle muss eine Einzelfallprüfung erfolgen.
Kernbeschränkungen
Eine Vereinbarung, die eine Kernbeschränkung enthält, ist allerdings vom Geltungsbereich der GVO als Ganzes ausgeschlossen. Liegt also eine Kernbeschränkung vor, so führt dies zur Unwirksamkeit der gesamten Vereinbarung.
Die fünf Kernbeschränkungen finden sich in Art. 4 der Vertikal-GVO aufgelistet, wobei jede Kernbeschränkung wiederum Ausnahmen hat:
  • die Beschränkung des Abnehmers seinen (Weiter- ) Verkaufspreis selbst festzusetzen
  • die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die der Abnehmer verkaufen darf
  • die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems
  • die Beschränkung von Querlieferungen zwischen Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems, auch wenn diese auf verschiedenen Handelsstufen tätig sind
  • die zwischen einem Anbieter von Teilen und einem Abnehmer, der diese Teile weiterverwendet, vereinbarte Beschränkung der Möglichkeit des Anbieters, die Teile als Ersatzteile an Endverbraucher oder an Reparaturbetriebe oder andere Dienstleister zu verkaufen, die der Abnehmer nicht mit der Reparatur oder Wartung seiner Waren betraut hat.

„Graue „ Klauseln
Enthält eine Vereinbarung sog. „Graue“ Klausel nach Art. 5 Vertikal-GVO lässt deren Aufnahme in den Vertrag zwar nicht die Gruppenfreistellung insgesamt entfallen, sie können aber für sich genommen nicht von der Gruppenfreistellung profitieren, so dass sie selbst zwar nicht freigestellt werden können. Die Freistellung des übrigen Teils der Vereinbarung bestehen jedoch bleibt. Zu den "grauen" Beschränkungen gehören insbesondere Wettbewerbsverbote, die für eine unbestimmte Dauer oder für eine Dauer von mehr als fünf Jahren gelten.

Änderungen nach der neuen Vertikal-GVO
Die neue EU-Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung mit Leitlinien ist am 1. Juni 2022 in Kraft getreten. Sie löste damit die bislang geltende Vertikal-GVO ab und gilt bis zum 31. Mai 2034. Für vor dem 31. Mai 2022 geschlossene Vereinbarungen enthält sie Übergangsregelung bis zum 31. Mai 2023, sofern die Vereinbarung die Voraussetzungen der bislang geltenden Vertikal-GVO erfüllt.
Die wichtigsten Änderungen betreffen die Anpassung des geschützten Bereichs, um sicherzustellen, dass dieser weder zu weit noch zu eng gefasst ist. Insbesondere sehen die neuen Vorschriften Folgendes vor:
Online-Vertrieb
Bislang war der Online-Vertrieb in der Vertikal-GVO nicht ausdrücklich erwähnt, nun wurde sie insbesondere unter Berücksichtigung der Zunahme des elektronischen Handels auch auf den Online-Vertrieb angepasst und werden auch Vereinbarungen über die Bereitstellung von Online-Vermittlungsdiensten ausdrücklich erfasst. Online-Vermittlungsdienste gelten als Anbieter von Waren und Dienstleistungen, und zwar unabhängig davon, ob die vermittelte Transaktion auf der Website des Vermittlers abgeschlossen wird oder nicht.
Eine Beschränkung wurde in der neuen Vertikal-GVO dadurch vorgenommen, dass Art. 5 Abs. 1 lit. d) der Verordnung vorsieht, dass die Freistellung nicht für Paritätsverpflichtungen gelten soll, die den Abnehmer von Online-Vermittlungsdiensten dazu verpflichten, Endverbrauchern Waren oder Dienstleistungen nicht über konkurrierende Online-Vermittlungsdienste zu günstigeren Bedingungen anzubieten, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen. Diese müssen folglich an Art. 101 Abs. 1 AEUV gemessen werden.
Auch erfolgt keine Freistellung für solche Beschränkungen, die die wirksame Nutzung des Internets durch Abnehmer oder seine Kunden für den Online-Verkauf verhindern sollen (Art. 4 lit. e) Vertikal-GVO). Davon abzugrenzen sind allerdings Vereinbarungen, die eine bloße Beschränkung der Nutzung bestimmter Online-Vertriebskanäle oder die Festlegung von Qualitätsstandards vorsehen (Rn. 208 der Leitlinien).
Dualer Vertrieb
Auch Vereinbarungen im zweigleisigen Vertrieb, sollen grundsätzlich durch die Verordnung freigestellt werden (Erwägungsgrund Nr. 12 der Vertikal-GVO). Zweigleisiger Vertrieb liegt vor, wenn ein Anbieter Waren oder Dienstleistungen nicht nur auf der vorgelagerten, sondern auch auf der nachgelagerten Stufe verkauft und somit mit seinen unabhängigen Händlern im Wettbewerb steht. Beschränkt wird die Freistellung durch die Verordnung aber insoweit, als dass der Informationsaustausch zwischen Anbieter und Abnehmer beim zweigleisigen Vertrieb nur freigestellt wird, wenn er einen direkten Bezug zur Umsetzung der vertikalen Vereinbarung hat und zur Verbesserung der Herstellung oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich ist. Dies gilt jedoch nicht mehr bei zweigleisigem Vertrieb im Falle von Vereinbarungen über die Bereitstellung von Online-Vermittlungsdiensten. Diese müssen anhand des Art. 101 AEUV geprüft werden.
Erweiterung des Anwendungsbereichs
Statt bisher nur Hersteller und Händler werden jetzt „Hersteller“, „Importeure“, „Großhändler“ und „Einzelhändler“ genannt. Relevant für die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO ist also nicht mehr, ob der Anbieter Lieferant ist, sondern nur, dass die Beteiligten auf der nachgelagerten Marktstufe im Wettbewerb miteinander stehen, der Abnehmer aber auf der jeweils vorgelagerten Marktstufe kein Konkurrent des Anbieters ist.
Onlineplattformen
"Online-Vermittlungsdienste" sind alle Dienstleistungen im Bereich des elektronischen Fernabsatzes, durch die direkte Transaktionen zwischen Unternehmen untereinander oder mit Endverbrauchern vermittelt werden. Diese weite Definition umfasst die klassischen Online-Marktplätze wie bspw. Amazon und ebay sowie die Online-Shops von Herstellern und Händlern aber auch Preisvergleichsportale und Social-Media-Dienste. Es wird klargestellt, dass diese Online-Plattformen uneingeschränkt dem Kartellverbot nach Art. 101 AEUV unterfallen, Freistellungen richten sich demnach ausschließlich nach der Vertikal-GVO. Ferner werden die Betreiber der Online-Vermittlungsdienste als Anbieter eingestuft, die Unternehmen, die diese Dienste zum Verkauf nutzen, sind Abnehmer.
Vereinbarungen zwischen Online-Plattformen, die neben Vermittlungsleistungen auch Eigenhandel über die Plattform betreiben (Hybridplattformen) und den Kunden ihrer Vermittlungsleistungen (unabhängigen Händlern) werden nicht vom Kartellverbot freigestellt, wenn die Plattform mit diesen Kunden in Wettbewerb über die vermittelten Waren/Dienstleistungen tritt.
Informationsaustausch
Die neue Vertikal-GVO stellt klar, dass der Informationsaustausch der Unternehmen untereinander nur dann als freigestellt gilt, wenn er die direkte Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft und zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs erforderlich ist.
Alleinvertrieb
Liefergebiete und Kundengruppen können künftig nicht mehr nur jeweils einem, sondern bis zu fünf Alleinvertriebshändlern exklusiv zugewiesen werden und so eine breitere Basis für den Absatz schaffen. In einem Alleinvertriebssystem kann der Anbieter den verschiedenen Abnehmern innerhalb der Ausnahmen nach Art. 4 lit. b) Vertikal-GVO weitreichende Beschränkungen auferlegen, wie z.B. Beschränkungen des Verkaufs an Gebiete oder Kunden, die anderen exklusiv zugewiesen sind.